Noch vor wenigen Jahren galt ESG – also Umwelt, Soziales und verantwortungsvolle Unternehmensführung – als die große Leitlinie in der Welt des Investierens. Der Aufbruch war spürbar: Asset Manager, Banken und institutionelle Anleger überboten sich mit Strategien, die nachhaltige und ethische Prinzipien in den Mittelpunkt rückten. Die Politik schob an, Klimaziele wurden ambitioniert formuliert, und der gesellschaftliche Druck auf Unternehmen stieg. ESG wurde nicht nur zum Trend, sondern fast schon zum moralischen Imperativ. Man sprach von einer Zeitenwende im Finanzwesen – einer neuen Ära, in der Rendite und Verantwortung sich nicht ausschließen sollten, sondern einander bedingen. Diese Aufbruchsstimmung hatte Substanz, aber auch einen Hauch von Idealisierung.
Heute zeigt sich ein anderes Bild. Die große ESG-Welle ist ins Stocken geraten. Was eben noch als unverzichtbar galt, wirkt nun vielerorts wie ein Luxus, den sich nicht mehr jeder leisten will. In der institutionellen Anlagepraxis wird ESG zunehmend als Nebenbedingung behandelt – nicht als tragende Säule. Auch im privaten Anlegersegment bröckelt die Überzeugung: Renditeerwartungen, Inflationsängste und kurzfristige Marktvolatilitäten drängen moralische Überlegungen an den Rand. ESG-Ratings werden infrage gestellt, die Transparenz und Vergleichbarkeit der Kriterien kritisiert. Der Enthusiasmus ist der Ernüchterung gewichen. Was geblieben ist, ist ein diffuser Wunsch nach Nachhaltigkeit – ohne jedoch den Willen zur konsequenten Umsetzung.
Die Ursachen für diesen Wandel sind vielschichtig, aber eine Entwicklung sticht besonders hervor: die geopolitische Zeitenwende. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur die Energiedebatte verändert, sondern auch Prioritäten verschoben. Versorgungssicherheit, militärische Aufrüstung, staatliche Interventionsfähigkeit – all das hat eine neue Relevanz bekommen. Im Nahen Osten eskalieren alte Konflikte erneut, in Asien verschieben sich Machtverhältnisse, und die globale Ordnung wirkt fragiler denn je. In solch einem Klima gewinnt kurzfristige Stabilität oft Vorrang vor langfristigen Nachhaltigkeitszielen. Wenn die Weltlage unübersichtlich wird, tendieren Anleger dazu, sich auf das Bekannte, das „Harte“ zu konzentrieren: Rohstoffe, Verteidigung, Infrastruktur. ESG erscheint dabei vielen als weiches Thema – eines, das man sich in Friedenszeiten eher leisten kann.
Doch genau das ist ein Trugschluss. Gerade in unsicheren Zeiten braucht es langfristiges Denken, klare ethische Orientierung und resiliente Geschäftsmodelle. ESG-Investments sind kein idealistischer Luxus, sondern strategische Notwendigkeit – wenn sie richtig verstanden und konsequent umgesetzt werden. Sie fördern Stabilität, schaffen Vertrauen und legen das Fundament für wirtschaftlichen Erfolg in einer komplexen Welt. Nachhaltigkeit darf keine Schönwetterstrategie sein. Wer jetzt ESG aufs Abstellgleis schiebt, handelt kurzsichtig – und läuft Gefahr, den Anschluss an zukünftige Entwicklungen zu verlieren. Denn die Verantwortung gegenüber Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensethik wird nicht kleiner, nur weil die Welt lauter wird. Sie wird dringlicher.